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Das Mädchen spielte nicht. Es imitierte nur das Spiel der anderen Kinder, die selbstvergessen einander auf dem grünen Rasen jagten. Das Mädchen rannte los, um wie die anderen zu rennen. Dann hielt es inne, schaute sich um, ob es von einem der Kinder vielleicht verfolgt würde. Aber keines beachtete das Mädchen, wahrscheinlich nicht einmal aus Bosheit. Es gehörte einfach nicht dazu.
Willem beobachte das Mädchen von seiner Parkbank aus und versuchte herauszufinden, worin seine Schuld bestand, dass es seine Einsamkeit nicht brechen konnte, mit den anderen nicht Gesellschaft halten konnte.
Er erinnerte sich an ein anderes, etwa gleichaltriges Mädchen, das er vor Jahren in Paris gesehen hatte. Es war an einem Sonntagmorgen bei Nieselregen im Bois de Boulogne gewesen. Es saß auf einem grauen Pony, das von einem gut gekleideten Mann, wahrscheinlich ihrem Vater, mehr gezogen als geführt wurde. Der Mann rauchte dabei nervös eine Zigarette und sah ab und zu nach seiner Tochter, um zu sehen, ob sie sich freute. Jedes Mal lächelte sie gezwungen, um ihn nicht zu enttäuschen. Die Szene hatte sowohl etwas Rührendes als auch Peinliches an sich, ein Eindruck, der durch die Kleidung des Mädchens noch verstärkt wurde. Es trug einen kräftig roten Wollmantel mit weißem Pelzkragen, eine weiße Mütze, weiße Strumpfhosen und schwarze Lackschuhe. Wie eine Prinzessin aus einer längst vergangenen Zeit sah es aus, allerdings wie eine Prinzessin, die jeden Augenblick unter der Last ihrer Krone zusammenbrechen würde. Willem dachte damals, dass es sich wohl um das sonntägliche Besuchsritual eines geschiedenen Mannes mit seiner von ihm getrennt lebenden Tochter handeln würde, das beide, Vater wie Tochter, pflichtschuldig absolvierten, weil sie es aus wechselseitiger Rücksichtnahme nicht abzuschaffen wagten.
Was mochte das Mädchen damals im Bois de Boulogne mit diesem hier im Holland Park gemeinsam haben? Willem ließ seine Blicke schweifen. Es hätte ihn nicht überrascht, auf einer der anderen Bänke wiederum einen Vater sitzen zu sehen, der wie jener in Paris unablässig rauchte. Stattdessen bewegte sich ein Mann mit weiten, leicht wippenden Schritten auf das Mädchen zu.
Willem erschrak, als er ihn näher kommen sah. Er hatte ihn sofort erkannt, obwohl er ihm noch nie persönlich begegnet war. Er wusste aber, dass er in der Nähe des Holland Parks wohnte. Es hatte in allen Zeitungen gestanden. Seit Tagen hatte er gehofft, ihn hier zu treffen, ohne jedoch ernsthaft damit gerechnet zu haben.
Willem fixierte ihn. Ja, es war tatsächlich Henry Hewitt, der dort über den Rasen ging. Henry Hewitt, der Schmuggler und Hehler, der mit geklauten und gefälschten Antiquitäten die Londoner Gesellschaft an der Nase herumgeführt hatte.
Er war größer, als Willem ihn sich vorgestellt hatte. Gut einen Kopf größer als er selbst. Über einen Meter neunzig musste er sein. Und stabiler war er auch. Nicht dick, aber muskulöser als von Willem angenommen. Hewitt trug hellblaue Cordhosen und darüber ein weiß-blau gestreiftes Rugby-Shirt mit dem »Hackett«-Emblem auf der linken Brustseite. Da seine Hosen nach britischer Manier um zwei Zentimeter zu kurz waren, konnte man deutlich seine gelben Socken sehen, die in hellbraunen Wildlederschuhen steckten.
Hewitt vermittelte keineswegs den Eindruck, als sei er ein Mann, der mit einem Bein im Gefängnis stand. Die prekäre Lage, in der er sich nach den Schilderungen in den Zeitungen befand, störte ihn offenbar in keiner Weise. Er ließ sich jedenfalls nichts anmerken. Jeder Schritt und jede Geste drückten eine Souveränität aus, die über jeden Zweifel und Selbstzweifel erhaben war.
»Komm, Patricia, lass uns nach Hause gehen«, rief er dem Mädchen zu, freundlich, aber bestimmt, und setzte dann seine schwarze Ray Ban auf, die er die ganze Zeit spielerisch in der Hand gehalten hatte.
Willem wartete einen Augenblick, damit sich der Abstand zwischen ihm und den beiden vergrößerte. Das Kind reichte Hewitt kaum bis zur Hüfte. Er schien doppelt so groß zu sein wie sie. Das ungleiche Paar, das die ganze Zeit vertraulich miteinander plauderte, ohne dass Willem ein Wort verstehen konnte, verließ den Park am Holland Walk und bog anschließend in Phillimore Gardens ein. Die Straße verlief schnurgerade und war gut überschaubar.
Er wechselte auf die andere Seite, hielt vorsichtshalber einen Moment inne und schlich dann an den parkenden Autos entlang. Beim dritten Haus auf der rechten Seite öffnete sich die Tür, als ob jemand dahinter die Ankunft der beiden abgepasst hätte. Das Mädchen eilte die Stufen hoch, Hewitt hinterher.
Hier wohnte er also. Nummer 46, Phillimore Gardens. Ein typisch viktorianisches Stadthaus, wie man es in den besseren Gegenden des Londoner Südwestens häufig sah, mit einer weiß getünchten Front und einer auffallenden, nachtblau lackierten Tür, auf der in geschwungenem Messing eine 46 prangte. Eine kleine Balustrade über dem Eingang wurde von Säulen gestützt, links und rechts reichten Erker bis in die erste Etage hinauf, auf denen sich in der zweiten Etage wiederum Balustraden mit Baikonen anschlossen. Alle Häuser in der Straße waren weiß. Von der architektonischen Gestaltung her unterschieden sie sich kaum. Hewitts Haus war aber um ein Drittel breiter als die anderen. Statt eines Vorgartens hatte das Haus einen mit Kies bestreuten Vorplatz, auf dem ein dunkelblauer Range Rover quergestellt parkte. Auf der Straße direkt vor dem Haus stand ein silbermetallicfarbener Siebener-BMW, der vermutlich auch ihm gehörte.
Das Haus, die Autos, die Straße, der Stadtteil, alles strahlte einen behaglichen Wohlstand aus, keinen überladenen Luxus, sondern einen soliden Reichtum, der die Bewohner vor allen unangenehmen Wechselfällen bewahrte, die das Leben für den Rest der Menschheit bereithielt. Willem störte sich nicht daran, dass die Reichtümer dieser Welt ungleich verteilt waren. Er ärgerte sich nur, dass er nicht zu den Reichen gehörte. Er wollte die Welt nicht verändern, sondern nur an ihr teilhaben.